Polarität
American Pie
Mein Akku ist vom vielen Laufen der ersten Tage leer, und beim Anblick der einladenden Restaurants knurrt mir der Magen. Ich habe auch noch nichts gefrühstückt. Daher springt mich sofort der verführerische Duft nach frischgebackenem Kuchen an, und ich lasse mich willig leiten. In der 43. Straße entdecke ich den Ursprung dieses süßen Versprechens. Die Little Pie Company, eine kleine, bezaubernde Konditorei mit einer Backstube direkt nebenan, kommt mir gerade recht. Ich schaue von außen durch die Fenster hinein und sehe den Mitarbeitern eine Weile bei ihrer Arbeit zu. Dann zieht es mich auch schon magnetisch in den Laden, der unscheinbar und sehr steril wirkt, mit seinen weißen bis an die Decke angebrachte Fliesen. Ein Schmuckstück der Bäckerei ist jedoch die verglaste Theke, die die herrlichen Pies unmittelbar zum Objekt der Begierde einer Naschkatze wie mir machen.
Links neben der Kuchentheke laden ein paar Tische und mit rotem Kunstleder bezogene Metallhocker zum Verweilen ein, um die appetitlichen Kuchen direkt vor Ort zu verkosten. Im ganzen Raum duftet es nach Schokolade, Karamell, Vanille, Zimt, gebratenen Äpfeln, Pfirsichen, Rosinen und Waldfrüchten. Die angebotenen Pies sind nicht billig, rufen mir aber zu: "Kauf mich!". Ein netter Verkäufer wartet höflich, bis ich mir alles in Ruhe angesehen habe, und fragt dann nach meinen Wünschen. Da ich mich im überwältigenden Angebot nicht zurechtfinde - wer weiß denn, was "Mississippi Mud Pie" bedeuten soll -, lasse ich mir den "Bestseller" empfehlen. Er zeigt ihn mir sichtlich stolz, als hätte er ihn gerade selbst gebacken, bevor er ihn fachmännisch einpackt, da ich zustimmend nicke. Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Der Kuchen misst acht Inches (1 inch = 2,54 Zentimeter), ist aus purer Schokolade und wird zum stolzen Preis von 22 Dollar mein Eigentum.
Ich kann mich nicht beherrschen und reiße noch beim Verlassen der Bäckerei die in eine Schachtel verpackte Köstlichkeit auf. Ein paar Meter weiter, außer Sichtweite des Verkäufers, beiße ich heißhungrig in den noch warmen Schokotraum. Wahnsinn! Er schmeckt so lecker, dass ich im Gehen weiteressen muss. Diese Unsitte ist in New York übrigens gang und gäbe und mittlerweile auch schon eine meiner schlechten Angewohnheiten. Aber hier kennt mich ja keiner, und ich kann machen, was ich will. Jetzt wird mir auch der Begriff "Fast Food" klar. Daran habe ich bis heute noch keinen Gedanken verschwendet.
Mit vollen Backen erreiche ich einige Blocks weiter den De Witt Clinton Park in der 11th Avenue, Ecke 52. Straße. Bis dahin habe ich die Hälfte des Pies schon verdrückt, der fast so viel gekostet hat wie meine neuen Gummistiefel.
Am Kinderspielplatz im Park setze ich mich auf eine Bank und vernasche die zweite Hälfte meines Pies. Mit meinem schokoladenverschmierten Mund füge ich mich in die kindgerechte Umgebung nahtlos ein. Mir wird leicht übel; einen Kuchen von der Größe einer kleinen Pizza zu vertilgen wäre mir in Deutschland wohl kaum in den Sinn gekommen. Nähere ich mich schon den in Amerika vorherrschenden XXL-Portionen an? Meine Figur kann ich ja so wohl bald vergessen.
Langsam laufe ich wieder los. Von meinen körperlichen Befindlichkeiten werde ich glücklicherweise durch einen merkwürdigen Paradiesvogel abgelenkt, der vor meiner Nase eine interessante Show abliefert. Entsprechend den Farben des Waldes ist er ganz in Grüntöne gekleidet, vom Hemd über die Lederhose mit Hosenträgern bis zu seinen geschnürten Stiefeln und dem kegelförmigen, hohen Hut, der über und über mit Federn in allen Farben geschmückt ist. Der Mann ist ein lebendes Gesamtkunstwerk und macht auf mich einen leicht verwirrten Eindruck: Er kommuniziert mit unsichtbaren Vögeln, zwitschert, tiriliert, ahmt sie nach. Dazwischen lacht er laut und macht dann munter weiter. "Ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel", scheint er zu rufen. Die Leute auf der Straße drehen sich mitleidig, belustigt oder kopfschüttelnd nach dem "Verrückten" um. Auch ich denke, dass er nicht ganz bei Trost sein kann. Er irritiert mich, nein, er stößt mich sogar ab. Plötzlich wird mir aber klar, dass ich eigentlich diejenige bin, die nicht ganz bei Trost ist. Hemmungslos gierig und gleichzeitig verschämt diesen riesigen Kuchen zu mampfen, der mir nun schwer wie Blei im Magen liegt, spricht nicht gerade für menschliche Intelligenz. Daneben kommt mir dieser Freak geradezu normal und gesund vor in all seiner federleichten Unbeschwertheit. Die Reaktionen der Menschen scheinen ihn offenbar herzlich wenig zu stören. Mit dieser Erkenntnis liegt mir der Kuchen noch schwerer im Magen. Ich will nur noch nach Hause, mir meine von Schokolade verschmierten Hände waschen und mich erst mal ausruhen.
Mein Akku ist vom vielen Laufen der ersten Tage leer, und beim Anblick der einladenden Restaurants knurrt mir der Magen. Ich habe auch noch nichts gefrühstückt. Daher springt mich sofort der verführerische Duft nach frischgebackenem Kuchen an, und ich lasse mich willig leiten. In der 43. Straße entdecke ich den Ursprung dieses süßen Versprechens. Die Little Pie Company, eine kleine, bezaubernde Konditorei mit einer Backstube direkt nebenan, kommt mir gerade recht. Ich schaue von außen durch die Fenster hinein und sehe den Mitarbeitern eine Weile bei ihrer Arbeit zu. Dann zieht es mich auch schon magnetisch in den Laden, der unscheinbar und sehr steril wirkt, mit seinen weißen bis an die Decke angebrachte Fliesen. Ein Schmuckstück der Bäckerei ist jedoch die verglaste Theke, die die herrlichen Pies unmittelbar zum Objekt der Begierde einer Naschkatze wie mir machen.
Links neben der Kuchentheke laden ein paar Tische und mit rotem Kunstleder bezogene Metallhocker zum Verweilen ein, um die appetitlichen Kuchen direkt vor Ort zu verkosten. Im ganzen Raum duftet es nach Schokolade, Karamell, Vanille, Zimt, gebratenen Äpfeln, Pfirsichen, Rosinen und Waldfrüchten. Die angebotenen Pies sind nicht billig, rufen mir aber zu: "Kauf mich!". Ein netter Verkäufer wartet höflich, bis ich mir alles in Ruhe angesehen habe, und fragt dann nach meinen Wünschen. Da ich mich im überwältigenden Angebot nicht zurechtfinde - wer weiß denn, was "Mississippi Mud Pie" bedeuten soll -, lasse ich mir den "Bestseller" empfehlen. Er zeigt ihn mir sichtlich stolz, als hätte er ihn gerade selbst gebacken, bevor er ihn fachmännisch einpackt, da ich zustimmend nicke. Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Der Kuchen misst acht Inches (1 inch = 2,54 Zentimeter), ist aus purer Schokolade und wird zum stolzen Preis von 22 Dollar mein Eigentum.
Ich kann mich nicht beherrschen und reiße noch beim Verlassen der Bäckerei die in eine Schachtel verpackte Köstlichkeit auf. Ein paar Meter weiter, außer Sichtweite des Verkäufers, beiße ich heißhungrig in den noch warmen Schokotraum. Wahnsinn! Er schmeckt so lecker, dass ich im Gehen weiteressen muss. Diese Unsitte ist in New York übrigens gang und gäbe und mittlerweile auch schon eine meiner schlechten Angewohnheiten. Aber hier kennt mich ja keiner, und ich kann machen, was ich will. Jetzt wird mir auch der Begriff "Fast Food" klar. Daran habe ich bis heute noch keinen Gedanken verschwendet.
Mit vollen Backen erreiche ich einige Blocks weiter den De Witt Clinton Park in der 11th Avenue, Ecke 52. Straße. Bis dahin habe ich die Hälfte des Pies schon verdrückt, der fast so viel gekostet hat wie meine neuen Gummistiefel.
Am Kinderspielplatz im Park setze ich mich auf eine Bank und vernasche die zweite Hälfte meines Pies. Mit meinem schokoladenverschmierten Mund füge ich mich in die kindgerechte Umgebung nahtlos ein. Mir wird leicht übel; einen Kuchen von der Größe einer kleinen Pizza zu vertilgen wäre mir in Deutschland wohl kaum in den Sinn gekommen. Nähere ich mich schon den in Amerika vorherrschenden XXL-Portionen an? Meine Figur kann ich ja so wohl bald vergessen.
Langsam laufe ich wieder los. Von meinen körperlichen Befindlichkeiten werde ich glücklicherweise durch einen merkwürdigen Paradiesvogel abgelenkt, der vor meiner Nase eine interessante Show abliefert. Entsprechend den Farben des Waldes ist er ganz in Grüntöne gekleidet, vom Hemd über die Lederhose mit Hosenträgern bis zu seinen geschnürten Stiefeln und dem kegelförmigen, hohen Hut, der über und über mit Federn in allen Farben geschmückt ist. Der Mann ist ein lebendes Gesamtkunstwerk und macht auf mich einen leicht verwirrten Eindruck: Er kommuniziert mit unsichtbaren Vögeln, zwitschert, tiriliert, ahmt sie nach. Dazwischen lacht er laut und macht dann munter weiter. "Ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel", scheint er zu rufen. Die Leute auf der Straße drehen sich mitleidig, belustigt oder kopfschüttelnd nach dem "Verrückten" um. Auch ich denke, dass er nicht ganz bei Trost sein kann. Er irritiert mich, nein, er stößt mich sogar ab. Plötzlich wird mir aber klar, dass ich eigentlich diejenige bin, die nicht ganz bei Trost ist. Hemmungslos gierig und gleichzeitig verschämt diesen riesigen Kuchen zu mampfen, der mir nun schwer wie Blei im Magen liegt, spricht nicht gerade für menschliche Intelligenz. Daneben kommt mir dieser Freak geradezu normal und gesund vor in all seiner federleichten Unbeschwertheit. Die Reaktionen der Menschen scheinen ihn offenbar herzlich wenig zu stören. Mit dieser Erkenntnis liegt mir der Kuchen noch schwerer im Magen. Ich will nur noch nach Hause, mir meine von Schokolade verschmierten Hände waschen und mich erst mal ausruhen.